Just Another Ant
Monday, 27. January 2003
Pier Paolo Pasolinis "La ricotta"

...heute in ARTEs "Kurzschluß" (Beginn 00:25, Wiederholung morgen um 17.25).

Ein wahres Kleinod im gesamten Filmschaffen Pasolinis ist sein nächster Film - die Episode "La ricotta" ("Der Weichkäse") - für ein Gemeinschaftsprojekt mit drei anderen Regisseuren: Rosselini, Godard und Gregoretti. Er hat ihn schon während der Arbeit an "Mamma Roma" geschrieben, in die Kinos kam er Anfang 1963 (unter dem Titel "Rogopag" nach den Anfangsbuchstaben der Autoren). Der Produzent, der den Film in Auftrag gegeben hatte, wies Pasolinis Episode wegen "moralischer Beleidigung" zurück, doch wieder sprang Alfredo Bini und konnte die Produktion selbst übernehmen. Sogar die Hürde Orson Welles konnte genommen werden, der im Film den Regisseur spielen sollte und sich nur für eine enorme Summe dafür bereit erklärte. (Er hatte von Pasolini noch nie etwas gehört.) Die Hauptrolle spielte wieder ein Laie, ein Subproletarier, der einen Subproletarier spielt. Aber dieser halbstündige Film ist keine Wiederholung des alten Themas, in ihm überschlagen sich vielmehr in mehrfacher metalinguistischer und formreflektierender Brechung, alle Themen des Dichters Pasolini. Realität und Fiktion gehen in diesem Film ebenso durcheinander wie Schwarzweißfilm und Farbe, Komik und Tragik, Alte und Neue Welt, Realismus und Slapstick, Kunst und Leben, Heiliges und Profanes. Der Ort der Handlung ist der "Set", sind die Dreharbeiten zu einem Film übr die Passion Christi. Pasolini selbst ist also das Thema, seine Arbeit, seine Rolle als Intellektueller und Künstler. Die Wahl von Orson Welles als Regisseur ist dabei so vielsagend wie der Drehort, die heruntergekommene Landschaft vor der Kulisse Roms und die Charaktere, die ihn bevölkern: von der Kulturschickeria bis zu den Hungerleidern. Das Thema des Films im Film ist die ikonographische Wiederbelebung der Kreuzigungsszene im Stile der Manieristen Pontormo und Rosso Fiorentino. Die wahre Passion ereignet sich aber hinter dem Rücken all dieser Akteure. Der profane Tod des Statisten Stracci am Kreuz ist der Wahrheit heilige, die Passion des Films ist dagegen "heillos", irreligiös, ein vulgäres Produkt der Kulturindustrie. Die Authentizität des Stracci liegt in seiner Armut, in seinem *Hunger*, dem archaischen und nie gestillten Hunger seiner *Rasse*. Die Parabel dieses Hungers erzählt Pasolini mit einer Vielzahl von formalen Registern, so daß sich der Zuschauer nie dem bequemen Gefühl des Mitleids überlassen kann. Diese Geschichte reflektiert Pasolinis Dilemma zwischen dem "wahren Leben" und der "wahren Kunst". Dieses Dilemma endet tödlich - nur der Tod kann der entheiligten Welt ihre wahre Dimension zurückgeben.

(Otto Schweitzer: Pasolini. rororo monographie 354, S. 79-80 )

Oje, das hört sich nun eher abschreckend an und ist zudem unglücklich formuliert. Die Menschen am Rande der Gesellschaft als "Rasse" mit authentischeren Ausdrucksformen? Ich befürchte fast, dies ist nicht völlig an Pasolini vorbeiinterpretiert und die weniger schöne Seite seines großen proletarischen Projekts.

Aus Jon Halidays Interviewband "Pasolini über Pasolini" (Folio Verlag, 1995; S. 70-71):

JH: Mit "La ricotta" hatten sie ziemliche Schwierigkeiten. Warum hat man Sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt?
PPP: Einem faschistischen Gesetz zufolge, das noch immer in Kraft ist, weil die Zivilgerichte hier nie gesäubert wurden, hat man mich zu vier Monaten bedingt verurteilt. Es gibt eine ganze Reihe von Richtern, die von antifaschistischen Gerichten verurteilt wurden, und noch immer Recht sprechen. Der faschistische Kodex kennt mehrere Formen der öffentlichen Verunglimpfung - die der Nation, der Fahne und der Religion eingeschlossen. Der Prozeß war eine Farce. Ich habe dann berufen und wurde freigesprochen. Ich weiß noch immer nicht genau, warum sie mich angeklagt haben, aber es war eine schreckliche Zeit für mich. Ich wurde Woche für Woche verleumdet, zwei oder drei Jahre lang hat man mich in unvorstellbarer Weise verfolgt. Ich kann ihnen aber nicht sagen warum das alles geschah, nur daß es ein Ausdruck der öffentlichen Meinung war, die seltsamerweise zutiefst rassistisch ist, meine ich. Man sagt, daß die Italiener keine Rassisten sind: das halte ich für eine große Lüge. Das italienische Bürgertum hat seinen Rassismus bis heute nicht gezeigt, weil es keine Gelegenheit dazu hatte. Die Italiener in Libyen und Eritrea waren keine Rassisten, weil sie aus dem kalabresischen und sizilianischen Subproletariat kamen. Das Kleinbürgertum hat nur keine Gelegenheit gehabt , rassistisch zu sein, obwohl es rassistisch ist. Ich konnte das an ihrer Haltung meinen Filmen gegenüber erkennen. Die öffentliche Meinung hat sich aus einem unbestimmbaren rassistischen Haß gegen mich aufgelehnt, der wie jede Art des Rassismus irrational ist. Sie konnten einfach Accatone und die anderen Figuren aus dem Subproletariat nicht hinnehmen. Es war also der Rassismus, der der öffentlichen Meinung die Grundlage für die Möglichkeit eines Prozesses geliefert hat.

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